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Lust, Heiterkeit und Bejahung

Skurilien & Subtilien von Renate Neuser

von Barbara Weyandt

(Weitere Informationen zu Renate Neuser hier)

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Wer das Atelier oder eine Ausstellung von Renate Neuser besucht, betritt eine Welt wundersamer Objekte. Ob die bizarren Gebilde in Regalen lagern oder museal aufbereitet präsentiert werden: stets stellt sich der Eindruck ein, einen fantastischen, poetischen Kosmos ganz eigener Prägung betreten zu haben.

Besiedelt wird dieser Kosmos von Geschöpfen, die Gefäßschnorchler, hörniger Stachelsegler oder Sandquappe im Stachelstadium heißen. Wesen, deren Namen auf ihre vermeintliche Herkunft aus der Natur verweisen. Zu ihnen gesellen sich Wunderdinge aus der Sphäre weiterer Mirabilia: fiktive wissenschaftliche Instrumente wie der rätselhafte Drehjambus und technisch-naturhafte Hybridwesen wie der Stelzenrobot oder der fabelhafte Papprob.

Selten scheint der Begriff der Kunst- und Wunderkammer in der zeitgenössischen Kunst so zutreffend zu sein, wie in Renate Neusers Präsentationen, in denen bizarr wirkende „Naturobjekte“ und Artefakte Aufnahme finden und den Betrachter zum Staunen animieren. Doch Vorsicht: Alle Exponate – auch die vorgeblichen „Naturalia“ – sind Ausgeburten künstlerischer Fantasie: Neuser erweist sich – Natürliches und Artifizielles ingeniös verbindend – als Schöpferin ihrer eigenen Histoire naturelle.

Kunsthistorisch mag man von Objekten und Skulpturen reden, doch ihrer Bedeutung nach sind es Geschöpfe. Neuser tritt als heitere Erfinderin auf, deren Inspirationsquelle die Natur ist. Besondere Impulse verdankt sie der Welt der niederen Lebensformen, hier vor allem den Stachelhäutern, Weichtieren, selbst den Einzellern, wo sich die Natur als unübertrefflich erfinderisch zeigt und Wesen hervorbringt, die „zu surreal sind, um wirklich zu existieren.“ (1) Auf diesen Formen- und Farbenreichtum, Zeugnis der „unermesslichen Formungskraft der Natur“ (2), greift Neuser bei ihren Neuentwicklungen zurück. Als kreative Erfinderin ist sie eine Vertreterin der Ars inveniendi, betreibt aber auch die Ars investigandi einer Naturforscherin. In diesem Spannungsfeld von forschendem Blick und schöpferischer Fantasie entstehen ihre Kreationen. Wirkt die ockerfarbene, weißgesprenkelte Sandquappe im Stachelstadium wie eine Varietät eines dicken Kissenseesternes, sind Flugqualle, Gefäßschnorchler oder die pinkäugige Tiefseeschönheit freiere Adaptionen aus der Welt der Biologie.

Ihre Namen gaukeln Authentizität und Wissenschaftlichkeit vor, doch tatsächlich ist Renate Neuser neben allem andern auch eine gewitzte Wortkünstlerin. Ihre sprachschöpferische Kraft zeigt sich in der souveränen, pseudowissenschaftlichen Benamung ihrer Objekte. Neuser betreibt nicht nur Mimikry der Formen, sondern auch des Wortes und erschafft ihre eigene, poetische Nomenklatur, wie die bereits genannten Beispiele zeigen. Die Titel ihrer Ausstellungen sind sprechend, Subtilia & Skurilia oder das frühere Neo Bio, und eröffnen sprachlich weite Wahrnehmungshorizonte. Mit ihren plausibel klingenden, jedoch erfundenen biologischen Fachbezeichnungen legt Neuser listige Fährten, hierin der Gestalt des Trickster nicht unähnlich. (3) Sukkolonia erinnert an die Pflanzengruppe der Sukkulenten und auch Butonia klingt wie der wissenschaftlichen Taxonomie entnommen. Doch ist es ein reiner Fantasiebegriff mit eigener Genese und historischem Tiefsinn. Einst der Name einer Knopffabrik, leitet sich Butonia vom frz. Bouton, Knopf ab. In schöner formaler Korrespondenz weist das Butonia getaufte Geschöpf zahlreiche, weiße halbkugelige Auswüchse auf, die an diese Wortbedeutung anknüpfen. „Poiesis“ bedeutet „Erschaffen“, und so sind, ganz folgerichtig, Neusers Werke poetisch zu nennen, denn der spielerisch-freie Umgang mit Sprache ist integraler Teil ihrer Schöpfungen.

Viele von Neusers Kreaturen sind mit Gummi-Saugnäpfen, Metall-Stacheln, Kunststoff-Papillen und Plastik-Tentakeln versehen, die auf die Merkmale bestimmter niederer Spezies abzielen und Assoziationen an Seeigel und Seeanemonen, Schlundschnecken, Korallen und weiteres Meeresgetier erlauben. Napfförmige Diskolithen an den Objekten der Installation Papperlapapp wirken wie große neugierige Lauscher. Was zur Frage der verwendeten Materialen führt: Neuser benutzt vorrangig alltägliche Gegenstände und Stoffe, die unter ihren formenden Händen zu verblüffendem neuem Wert gelangen. Häute aus Cellophanpapier, Tentakel aus Klippdraht, Fühler aus Plastik-Kabelbindern: Banale Verpackungsutensilien werden verfremdet und durch ihre Transformation aufgewertet. Gerade ein Paria unter den Materialien, wie das zumeist als Verpackungsmaterial dienende Zellglas (Cellophan), erlebt durch die „Verwandlung der Dinge“ eine neue Wertschätzung. Als transluzide Haut vieler Neuser‘scher Kreaturen zeigt es unerwartet glanzvolle Qualitäten. Bei aller Nähe zum Musterbuch der Natur erweisen sich Neusers Geschöpfe immer jedoch als präzise formulierte autonome Kunstwerke mit eigener künstlerischer Logik in Aufbau und Kolorit. Sie bedient sich dazu der Montage als Gestaltungstechnik, die ihr lustvolles Kombinieren mit höchst unterschiedlichen Versatzstücken erlaubt. Diese Ars combinatoria wurde als schöpferische Praxis vor allem im Surrealismus eingesetzt, um eingefahrene Sichtweisen aufzubrechen. Und tatsächlich leuchtet mehr oder minder latent eine surreale Unterströmung in Neusers Werk immer wieder auf.

Mit petit cauchemar erweist sich Neuser als ferne, heitere Schwester von Meret Oppenheim. Es ist die Installation eines Tisches, aus dessen Schublade ein nicht näher zu definierendes Gebilde unvermittelt wuchernd raumgreifend herauswächst. Petit cauchemar, der kleine Albtraum, aber verliert seine potenzielle Bedrohlichkeit durch die Farbgestalt: Heiteres Pink und kühles Violett-Rosé nehmen dem Albtraum die Schwere. Überhaupt sorgt auch und gerade das Kolorit für die Leichtigkeit und Heiterkeit von Neusers Kosmos. Oft mischt sie die Grundfarben mit Weiß, nimmt den Objekten damit die Schwere. Delikate Farbpaare erzeugen subtile Wirkungen, wie man an Kombinationen von Türkis, Beige, Violett wahrnehmen kann. Es ist eine freundliche Welt, die sich in schillernden türkis- und ozeanisch-grünen Werten zeigt. Durch die Verwendung kontrastierender Farben akzentuiert Neuser nicht zuletzt den Montagecharakter ihrer Kreaturen, die spannungsreich aus unterschiedlichen Versatzstücken zusammengefügt sind. Der Verzicht auf farbige Vereinheitlichung steigert auch die Richtungshaftigkeit der diversen Fühler und Stacheln, die wie Vektoren den Raum erkunden.

Mit ihren technobiotischen Neu-Schöpfungen wie Stelzenrobot und Papprob, letzterer ein kurioser Zwitter aus Kugelfisch und Taucherkapsel, erobert sie sich künstlerisch den Themenbereich der Bionik. Auch diese technischen Imaginationen und hybriden Mischwesen bestechen durch Witz und Präzision. Sie lassen die bösartige Fremdheit und bedrohliche Hässlichkeit vermissen, wie sie sich in anderen künstlerischen Parallelwelten etwa in H.R. Gigers Fantasiewesen „Alien“ ikonisch verdichtet hat. Neuser blickt mit Wohlwollen auf die Natur und hebt den Schatz ihrer Schönheiten aus den Tiefen an die Oberfläche. Lust, Heiterkeit und Bejahung (4) sind die Triebkräfte ihres Tuns. Wenn der Dichter ein Abenteurer ist, wie Eugen Gomringer behauptet (5), so ist die Künstlerin Renate Neuser eine Freibeuterin. „Was dann aus diesem Treiben erwächst, ist ganz ernst zu nehmen, wenn es sich mit den passenden bildnerischen Mittel restlos zur Gestaltung verbindet. Dann werden jene Kuriosa zu Realitäten, zu Realitäten der Kunst.“ (Paul Klee) (6)

Barbara Weyandt, Kunsthistorikerin

Anmerkungen:
(1) Zitiert nach www.geo.de/natur/tierwelt/17102-bstr-diese-tiere-sind-zu-surreal-um-wirklich-zu-existieren
(2) Wie Bernhard Grzimek schwärmerisch formuliert in: Grzimeks Tierleben. Enzyklopädie des Tierreichs, Bd. 3, Weichtiere und Stachelhäuter. Augsburg 2000. S. 20.
(3) Die Figur des Trickster ist eine kulturhistorische Konstante. Als Kulturheros sorgt er dafür, dass der Mensch Dinge aus neuer Perspektive wahrnehmen kann.
(4) Eugen Gomringer: Der Dichter und das Schweigen. In: Eugen Gomringer. Admirador. Berlin 2012, S. 27.
(5) Vgl. Anm. 3.
(6) Paul Klee: Über die moderne Kunst. Vortrag 1924. Zitiert nach: Walter Hess. Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei. Reinbek bei Hamburg 1986, S. 84.

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